1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 28.07.2005 - S 11 AL 636/04 - aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 18.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2004 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 01.02.1996 bis 01.01.1997 und gegen die Rückforderung von Leistungen sowie Beiträgen.

Der 1961 geborene Kläger steht seit 1991 bei der Beklagten mit Unterbrechungen im Leistungsbezug. Zuletzt erhielt er Alhi ab 04.09.1995 (Bescheide vom 27.09.1995, 06.12.1995 und 02.07.1996) bzw. ab 02.12.1996 (Bescheid vom 04.12.1996) und für den 01.01.1997 (Bescheid vom 15.01.1997). Aufgrund von Angaben des Klägers, dass er bei dem Taxiunternehmen M W seit Februar 1996 einen monatlichen Verdienst von 580,00 DM erziele, rechnete die Beklagte diesen Nebenverdienst auf die gewährte Leistung an. Der wöchentliche Leistungssatz ab 01.01.1996 betrug 359,58 DM, der Anrechnungsbetrag 49,62 DM, der Leistungssatz ab 01.10.1996 349,44 DM und der Anrechnungsbetrag 51,93 DM und für den 01.01.1997 343,44 DM bei einem unveränderten Anrechnungsbetrag.

Vom 02.01. bis 31.03.1997 bezog er Unterhaltsgeld (Bescheid vom 13.02.1997). Am 01.04.1997 nahm er eine Arbeit auf.

Am 30.10.2002 ging bei der Beklagten (Arbeitsamt Montabaur) ein Schreiben des Hauptzollamtes Koblenz vom 29.10.2002 ein. Der Beklagten wurde mitgeteilt, dass sich in einem Ermittlungsverfahren gegen den Taxiunternehmer M W ergeben habe, dass der Kläger im Zeitraum vom 01.02.1996 bis 31.03.1997 dort als Taxifahrer bei einem Nettolohn von monatlich 1.800,00 DM beschäftigt gewesen sei. Beigefügt war die Niederschrift über die Vernehmung des Klägers als Zeugen vom 09.04.2002. Der Kläger hat zur Sache angegeben:

"Ich habe von 1994 bis zum 07.03.1997 nebenbei Taxi in K , L und B gefahren. In diesem Zusammenhang habe ich den M W als Taxiunternehmer kennen gelernt. Ich habe bei ihm im Zeitraum 01.02.1996 bis 07.03.1997 Taxi gefahren. Meine Arbeitszeit war immer nachts gewesen. Dies war während der Woche von sonntags bis donnerstags in der Zeit von 18.00 Uhr bis 02.00 Uhr und von freitags und samstags in der Zeit von 18.00 Uhr bis 06.00 Uhr. Ich habe meiner Erinnerung nach vier Schichten bedient. Ich habe pro Monat 1.800,00 DM netto verdient. Den Verdienst habe ich täglich vom Taxiumsatz einbehalten. Die Schichten bestanden aus dem Stundensatz von 8,00 DM zusätzlich Umsatzbeteiligung. Ich muss sagen, dass ich in dem Beschäftigungszeitraum Leistungen vom Arbeitsamt Montabaur bezog. Ich habe meiner Erinnerung nach dem Arbeitsamt einen Verdienst von monatlich 650,00 DM angezeigt. Ich wusste damals, dass das Nichtanzeigen des tatsächlich gezahlten Lohnes strafbar und verboten war. Ich hatte zwei Kinder und war auch schon zum damaligen Zeitpunkt verheiratet. Ich glaube, ich habe monatlich 1.200,00 DM bis 1.300,00 DM vom Arbeitsamt erhalten. Die Lohnabrechnungen des M W , in denen monatlich 580,00 DM als Nettoverdienst ausgewiesen waren, stimmen nicht. Ich bekam, wie gesagt, 1.800,00 DM pro Monat von M W. Die Barauszahlungen des W von monatlich 580,00 DM, ausweislich seiner Buchführung, sind so falsch. Ich habe täglich meinen Verdienst aus dem Taxiumsatz einbehalten."

Der Arbeitgeber M W bestätigte die vom Kläger gemachten Angaben in seiner Aussage vom 06.06.2002.

Das Arbeitsamt Montabaur gab diese Unterlagen mit den Verwaltungsakten am 04.11.2002 an die Geschäftsstelle Bad Ems zur Erledigung und zur Berechnung des entstandenen Schadens ab.

Auf die Anhörung mit Schreiben vom 06.05.2003 - am 17.06.2003 erneut an den umgezogenen Kläger versandt - wies der Kläger am 30.09.2003 (Eingang bei der Beklagten am 01.10.2003) darauf hin, dass die Rückforderung im Hinblick auf seine familiären und finanziellen Verhältnisse eine besondere Härte darstelle. Außerdem habe er vom 02.01. bis 31.03.1997 an einer Reintegrationsmaßnahme teilgenommen und in dieser Zeit nur noch in geringem Umfang seine Taxitätigkeit ausgeübt.

Mit Bescheid vom 18.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2004 hob die Beklagte die Entscheidungen über die Bewilligung von Alhi vom 27.09.1995, 06.12.1995 und 02.07.1996 gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) und die Entscheidungen vom 04.12.1996 und vom 15.01.1997 gemäß § 45 SGB X auf, da eine Arbeitslosigkeit des Klägers nicht vorgelegen habe. Der Kläger habe ab Februar 1996 zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht. Die im Zeitraum vom 01.02.1996 bis 01.01.1997 gezahlte Alhi in Höhe von 8.702,67 EUR sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 3.008,99 EUR seien zu erstatten. Eine Kenntnis von allen entscheidungserheblichen Tatsachen habe erst am 01.10.2003 vorgelegen.

Ein weiterer Bescheid vom 18.02.2004 in der Gestalt eines weiteren Widerspruchsbescheides vom 27.07.2004 betreffend die Rücknahme der Bewilligung von Unterhaltsgeld vom 02.01. bis 07.03.1997 und die Erstattung ist bestandskräftig.

Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat die Klage mit Urteil vom 28.07.2005 abgewiesen. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bewilligung von Alhi gemäß den §§ 48 und 45 SGB X seien erfüllt. Auch die Jahresfrist sei zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 18.02.2004 noch nicht verstrichen gewesen. Erst durch die Stellungnahme des Klägers im Anhörungsverfahren habe die Beklagte Kenntnis aller Tatsachen erhalten, die für die Rücknahmeentscheidung von Bedeutung waren. Ohne Anhörung habe die Beklagte die Angaben des Klägers im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht zugrunde legen dürfen. Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Verzögerung des Anhörungs- und des Aufhebungsverfahrens seien nicht festzustellen.

Gegen das ihm am 08.08.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29.08.2005 Berufung eingelegt.

Er trägt vor, dass der Beklagten bereits aufgrund seiner Angaben in der Vernehmungsniederschrift des Hauptzollamtes sämtliche Tatsachen bekannt gewesen seien, um einen rechtmäßigen Rücknahmebescheid zu erlassen. Die Anhörung und weitere Ermittlungen seien damit nicht notwendig gewesen, um den Beginn der Jahresfrist in Gang zu setzen. Zudem sei die Anhörung nicht zügig erfolgt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 28.07.2005 - S 11 AL 636/04 - sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt aus, dass frühestens mit der Reaktion des Klägers auf die Anhörung die Kenntnis aller Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigten, vorgelegen habe. Dazu gehöre nämlich auch der konkrete Aufhebungszeitraum und die Höhe der Rückforderung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Er war Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 18.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte war wegen des Ablaufs der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2, § 48 Abs. 4 Satz 1 iVm § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht zur Aufhebung der Bewilligung von Alhi berechtigt.

Das SG hat zutreffend dargelegt, dass sich die Aufhebung der Bewilligungsentscheidungen nach den Vorschriften der §§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 4 und 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 und 3 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 und 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) richtet und dass die tatbestandlichen Voraussetzungen im hier streitigen Zeitraum vom 01.02.1996 bis 01.01.1997 gegeben waren.

Allerdings hat die Beklagte bei Aufhebung der Bewilligungsbescheide die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 bzw. gemäß § 48 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X versäumt. Die Beklagte muss hiernach die frühere Bewilligung innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aufgehoben haben, welche die Aufhebung des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen.

Zu den Tatsachen, die die Aufhebung eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen, gehören zunächst die Umstände, die die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ergeben bzw. die die wesentliche Änderung betreffen. Zusätzlich müssen der Behörde auch diejenigen Tatsachen bekannt sein, die § 45 Abs. 2 Satz 3 bzw. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X für die Aufhebung voraussetzen. Bei einer Aufhebungsentscheidung, die sich auf den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bzw. Kenntnis der Rechtswidrigkeit stützt, beginnt die Jahresfrist mithin dann zu laufen, wenn die Beklagte Kenntnis davon hatte, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Maßgeblich ist damit der Zeitpunkt, zu dem die Behörde aufgrund des ermittelten Sachverhalts Kenntnis von der Bösgläubigkeit des Klägers hatte. Die Frage, wann die Behörde die Tatsachen, die eine abschließende Prüfung der Rücknahmevoraussetzung erlauben, kennt, ist weder ausschließlich anhand objektiver Kriterien noch allein aufgrund der subjektiven Einschätzung der Behörde zu beantworten. Die zeitliche Begrenzung der Rücknahmebefugnis für die Vergangenheit dient der Rechtssicherheit. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes ist die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht. Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde, und zwar des für die Rücknahmeentscheidung zuständigen Sachbearbeiters, abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (BSG, Urteil vom 27.07.2000 - B 7 AL 88/99 R -; SozR 3-1300 § 45 Nr. 42).

Hinsichtlich der Tatsachen, aus denen die grobe Fahrlässigkeit abzuleiten ist, ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen. Die Behörde wird sich im Regelfall mit der Beurteilung objektiver Gegebenheiten nicht begnügen können, ohne dem Betroffenen vorher Gelegenheit zu geben, zu den entscheidungserheblichen Tatsachen Stellung zu nehmen. Nur so kann sie sich davon überzeugen, dass sie bei der Bescheiderteilung keine nur dem Betroffenen bekannten Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat. Die Jahresfrist kann daher regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung gemäß § 24 SGB X beginnen (BSG, Urteil vom 08.02.1996 - 13 RI 35/94 -, SozR 3-1300 § 45 Nr. 27; Urteil vom 27.07.2000 - B 7 AL 88/99 R -, SozR 3-1300 § 45 Nr. 42).

Im vorliegenden Fall sind jedoch Umstände gegeben, die einen anderen Zeitpunkt des Beginns der Jahresfrist begründen. Aufgrund der Angaben des Klägers in der Vernehmungsniederschrift des Hauptzollamts Koblenz vom 09.04.2002 hatte die Beklagte sichere Kenntnis aller für die Aufhebungsentscheidung maßgebenden Tatsachen. Der Kläger hat den Zeitraum seiner Tätigkeit als Taxifahrer, die Arbeitszeit und seinen Verdienst dargelegt. Aus diesen vom Arbeitgeber bestätigten Angaben konnte die Beklagte entnehmen, dass eine Arbeitslosigkeit des Klägers im hier streitigen Zeitraum nicht (mehr) vorlag. Weiterhin hat der Kläger bekundet, dass er gewusst habe, dass das Nichtanzeigen des tatsächlich gezahlten Lohns gegenüber dem Arbeitsamts verboten gewesen sei. Hieraus ergab sich, dass der Kläger aufgrund seiner subjektiven Wertung Kenntnis vom Wegfall der Voraussetzungen der Alhi hatte bzw. dass schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen zu dieser Kenntnis hätten führen können. Der Verwertung dieser zeugenschaftlichen Angaben des Klägers im Verwaltungsverfahren durch die Beklagte stehen keine Hindernisse entgegen. Der Kläger wurde durch den Ermittlungsbeamten auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen und es war für die Beklagte objektiv nicht zu erkennen, dass seine für die Aufhebungsentscheidung maßgebenden Angaben noch ergänzungsbedürftig waren. Die Beklagte konnte mangels anderer Anhaltspunkte von vornherein ausschließen, dass der Kläger angesichts seiner Bekundungen weitere entscheidungserhebliche Tatsachen geltend machen konnte.

Ermittlungen hat auch die Beklagte selbst nicht für erforderlich gehalten. Auf den Gesamtumfang der Erstattungsforderung kam es nicht an, da die Beklagte kein Ermessen auszuüben hatte (§ 330 Abs. 2 und 3 SGB III). Ob die Anhörung des Klägers gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X entbehrlich gewesen ist, weil diese durch seine eigenen Angaben gewissermaßen schon vorweg genommen wurde, kann offen bleiben. Auf den Beginn der Jahresfrist konnte sich die Anhörung aufgrund der bei der Beklagten schon vorher vorhandenen hinreichend sicheren Informationsgrundlagen nicht auswirken.

Diese sichere Kenntnis aller für die Aufhebung erforderlichen Tatsachen erlangte die innerhalb der Organisation der Beklagten zur Aufhebung berufene Stelle, das Arbeitsamt Bad Ems, aufgrund der am 04.11.2002 erfolgten Abgabe durch das Arbeitsamt Montabaur. Eine Entscheidung über die Aufhebung der Bewilligung von Alhi hätte die Beklagte damit spätestens Anfang November 2003 treffen müssen. Sie hat jedoch den entsprechenden Bescheid erst am 18.02.2004 und damit nach Fristablauf erlassen. Hierzu war sie nicht mehr berechtigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.