1. Anforderungen an die Ermessensauswahl bezüglich Zustellungsadressat eines Bescheides gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 VwZG
2. Bei der Ermessensentscheidung können nach der Rechtsprechung verschiedene Umstände berücksichtigt werden, die entweder zu einer Bekanntgabe an den Beteiligten oder an dessen Prozessbevollmächtigte führen. Ein Ermessensmissbrauch ist lediglich dann gegeben, wenn sich die Behörde bei gleich bleibenden Verhältnissen eine zeitlang ständig an den Prozessbevollmächtigten, dann aber ohne ersichtlichen Grund an den Beteiligten selbst wendet (BFH, Urteil vom 11.08.1954 – II 239/53 U -, BFHE 59, 305). Ferner ist ein Ermessensfehler dann angenommen worden, wenn die Behörde durch die Aufführung des Prozessbevollmächtigten im Rubrum und in den Gründen einer Entscheidung – auch wenn keine schriftliche Vollmacht eingereicht worden ist – ersichtlich von einer Bevollmächtigung ausgeht und die Entscheidung trotzdem nicht den Prozessbevollmächtigten bekannt gibt (BFH, Urteil vom 25.10.1963 – III 7/60 U -, BFHE 77, 764; BFH, Urteil vom 05.10.2000 – VII R 96/99 -, zitiert nach Juris, Rn. 13).
3. Verhältnis von sozialrechtlichem Herstellungsanspruch zur gesonderten Regelung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in § 67 SGG
Verfahrensgang: vorgehend SG Dresden 8.01.2008 S 12 AS 1595/07
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 08.01.2008 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides der Beklagten. Insbesondere ist jedoch die Einhaltung der Widerspruchsfrist streitig.

Die 1961 geborene Klägerin beantragte Ende des Jahres 2004 erstmals Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum ab 01.01.2005. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie allein. Die Beklagte bewilligte ihr mit Bescheid vom 09.12.2004 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2005.

In ihrem Folgeantrag vom 30.06.2005 gab die Klägerin den Einzug ihres damaligen Lebensgefährten und heutigen Ehegatten X an. Am 07.07.2005 konkretisierte sie den Zeitpunkt des Einzugs auf den 01.02.2005. Nach Anhörung der Klägerin, in dessen Verlauf sich die Prozessbevollmächtigten der Klägerin anzeigten, hob die Beklagte die Bewilligung mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 02.11.2005 teilweise auf und machte für den Zeitraum vom 01.02.2005 bis 30.06.2005 eine Erstattungsforderung in Höhe von 926,00 € geltend. Hiergegen erhoben die Klägerin am 08.02.2006 und die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 16.02.2006, das bei der Beklagten am selben Tag einging, Widerspruch. Die Beklagte verwarf den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2007 wegen Versäumens der Widerspruchsfrist.

Die Klägerin hat ihr Begehren mit der am 11.06.2007 zum Sozialgericht Dresden (SG) erhobenen Klage weiter verfolgt. Darin räumt sie ein, der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid müsse ihr spätestens am 05.11.2005 zugegangen sein. Sie hat insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Sie habe davon ausgehen dürfen, dass ihr Schreiben vom 10.08.2005 im Rahmen des Anhörungsverfahrens ausreichend gewesen sei, um ein entsprechendes Rechtsbehelfsverfahren einzuleiten. Sie habe daher nicht damit rechnen müssen, gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 02.11.2005 gesondert Widerspruch einlegen zu müssen. Die entsprechende Fristversäumnis sei von ihr daher nicht verschuldet.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 08.01.2008 abgewiesen. Der Widerspruch der Klägerin sei verfristet. Der angefochtene Bescheid sei der Klägerin – wie sie selbst einräume – spätestens am 05.11.2005 zugegangen. Er gelte daher gemäß § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) als an diesem Tag bekannt gegeben. Daran ändere auch nichts, dass ausweislich der Verwaltungsakte der Beklagten der angefochtene Bescheid an die Klägerin persönlich adressiert worden sei, obwohl sich bereits im Rahmen des vorangegangenen Anhörungsverfahrens nach § 24 SGB X deren jetzige Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 23.08.2005 angezeigt und um Mitteilung binnen 14 Tagen gebeten hatten, ob von der Rückforderung Abstand genommen werde. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) könnten Zustellungen an den allgemeinen oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Bevollmächtigten gerichtet werden. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG seien Zustellungen lediglich dann verpflichtend an den Bevollmächtigten zu richten, wenn dieser eine schriftliche Vollmacht vorgelegt habe. Das sei vorliegend jedoch nicht der Fall gewesen. Die Widerspruchsfrist habe somit am 06.11.2005 begonnen und – wegen der Feiertage – am 05.12.2005 um 24.00 Uhr geendet. Der Widerspruch sei jedoch erst am 16.02.2006 beim Beklagten eingegangen.

Entgegen der Auffassung der Klägerin lägen die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor. Der Klägerin habe nach Einschaltung ihrer Prozessbevollmächtigten klar gewesen sein müssen, oder aufgrund der zu unterstellenden rechtmäßigen Beratung zumindest klar gewesen sein sollen, dass die Anhörung vom 03.08.2005 noch einen anfechtbaren Bescheid nach sich ziehen würde. Auf alle Fälle habe von der Klägerin nach Erhalt des Bescheides vom 02.11.2005 erwartet werden können, dass sie bei ihren Prozessbevollmächtigten nachfragt, warum sie nach deren Beauftragung direkt einen Bescheid erhalte und ob die Prozessbevollmächtigten hiervon Kenntnis hätten. Unabhängig davon habe sich die Klägerin jedoch nach eigenem Vortrag unmittelbar nach Zugang des Schreibens der Beklagten vom 17.01.2006 an ihren Prozessbevollmächtigten gewandt und über diesen erst mit Schreiben vom 16.02.2006 Widerspruch eingelegt. Gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB X sei ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aber innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Diese Frist sei hier ebenfalls nicht eingehalten.

Gegen den den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 14.01.2008 zugestellten Gerichtsbescheid haben diese am 16.02.2008 Berufung beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegt. Das SG habe außer Acht gelassen, dass der Beklagten aus dem Inhalt des klägerischen Schreibens vom 10.08.2005 eindeutig erkennbar sein musste, dass sich die Klägerin im Irrtum über die Rechtsnatur des Schreibens vom 03.08.2005 befunden habe und sich mit einem entsprechenden „Widerspruch“ nach ihrer Vorstellung in relevanter Weise gegen das dort angekündigte Rückforderungsverlangen gewendet habe. Der diesbezügliche Irrtum der Klägerin sei für die Beklagte offensichtlich gewesen. Weil zwischen der Beklagten und der Klägerin ein Verhältnis der Über-/Unterordnung bestehe, hätte die Beklagte den offensichtlichen Irrtum der Klägerin zum Anlass nehmen müssen und die Klägerin spätestens mit Erlass des tatsächlichen Bescheides darauf hinweisen müssen, dass der vorherige „Widerspruch“ tatsächlich lediglich eine Stellungnahme im Rahmen der Anhörung darstelle.

Zudem sei der Bescheid entgegen § 7 Abs. 1 VwZG nicht an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt worden. Dies müsse erst recht gelten, wenn – wie hier – sich die Klägerin in einem Rechtsirrtum befinde. Zudem sei das SG unzutreffend davon ausgegangen, dass sich die Klägerin umgehend nach Zugang des Schreibens der Beklagten zur Beantragung weiterer Sozialleistungen vom 17.01.2006 an die Prozessbevollmächtigten gewandt und den Widerspruch vom 16.02.2007 veranlasst habe. Richtig sei, dass sich die Klägerin „nach Zugang“ an die Prozessbevollmächtigten gewandt habe, alle bei ihr noch eingegangenen Unterlagen vorgelegt und den Widerspruch vom 16.02.2007 veranlasst habe.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 08.01.2008, den Bescheid vom 02.11.2005 und den Widerspruchsbescheid vom 08.05.2007 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Der Einzelrichterin des Senats liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten vor. Ihr Inhalt war Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 08.01.2008 die Klage abgewiesen.

1. Die Klägerin hat die Widerspruchsfrist des § 84 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) versäumt. Wie vom SG zutreffend ausgeführt, ist der Widerspruch nach der genannten Norm binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzulegen, die den Verwaltungsakt erlassen hat.

Der angefochtene Bescheid gilt gemäß § 37 Abs. 2 1. Halbsatz SGB X – wie vom SG ebenfalls zutreffend erkannt – als mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post, die ausweislich des Schreibens der Beklagten vom 07.07.2008 am 03.11.2005 erfolgte, mithin am 06.11.2005 als zugegangen, weil die Klägerin die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs nicht ernstlich dargetan hat (vgl. BFH, Urteil vom 04.03.1977 – IV R 242/74 -, BFHE 121, 389; BFH, Urteil vom 14.08.1975 – IV R 150/71; BFH, Urteil vom 12.08.1981 – I R 140/78; BFH, Urteil vom 08.12.1976 – I R 240/74 -, BFHE 121, 142; BVerwG, Beschluss vom 24.04.1997 – 5 B 132/86 -; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 14.07.1999 – L 2 AL 16/98 -; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.03.2003 – L 8 AL 279/02 -). Sie hat vielmehr eingeräumt, dass von einem Zugang des Bescheides am 05.11.2005 auszugehen ist. Daher bestehen Zweifel an dem erwartungsgemäßen Zugang des Bescheides nicht (BFH, Urteil vom 04.03.1977, a.a.O.; BFH, Urteil vom 14.08.1975, a.a.O.; BFH, Urteil vom 12.08.1981, a.a.O.; BFH, Urteil vom 08.12.1976, a.a.O.; BVerwG, Beschluss vom 24.04.1997, a.a.O.; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 14.07.1999, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.).

Mit dem SG geht auch der Senat davon aus, dass der Umstand, dass der angefochtene Bescheid an die Klägerin und nicht deren Prozessbevollmächtigte adressiert wurde, kein anderes Ergebnis rechtfertigt. Gemäß § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 VwZG können Zustellungen an die Prozessbevollmächtigten der Beschwerten gerichtet werden. Sie sind lediglich gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG dann zwingend an die Prozessbevollmächtigten zu richten, wenn diese eine schriftliche Vollmacht vorgelegt haben. Das war vorliegend zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides jedoch nicht der Fall. Eine schriftliche Vollmacht wurde vielmehr erst am 25.04.2007 eingereicht.

Zwar muss die Behörde im Rahmen einer Zustellung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 VwZG nach pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, ob sie an den Beteiligten selbst oder seinen Prozessbevollmächtigten zustellt (Engelhardt/App, VwVG/VwZG, 7. Auflage, § 7 Rn. 5). Die von der Behörde nach § 7 Abs. 1 VwZG vorzunehmende Ermessensentscheidung ist entsprechend dem Zweck der Ermächtigung – unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens – zu treffen. Die Einräumung des insoweit bestehenden Auswahlermessens soll dem Ziel dienen, die Behörde nicht über das notwendige Maß hinaus zu binden und ihr dadurch die Möglichkeit zu lassen, den vielfältigen Erscheinungen der Massenverwaltung individuell Rechnung zu tragen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.12.1989 – 22 A 235/86 -, Betriebs-Berater 1990, S. 2249).

Bei der Ermessensentscheidung können nach der Rechtsprechung verschiedene Umstände berücksichtigt werden, die entweder zu einer Bekanntgabe an den Beteiligten oder an dessen Prozessbevollmächtigte führen. Ein Ermessensmissbrauch ist lediglich dann gegeben, wenn sich die Behörde bei gleich bleibenden Verhältnissen eine zeitlang ständig an den Prozessbevollmächtigten, dann aber ohne ersichtlichen Grund an den Beteiligten selbst wendet (BFH, Urteil vom 11.08.1954 – II 239/53 U -, BFHE 59, 305). Ferner ist ein Ermessensfehler dann angenommen worden, wenn die Behörde durch die Aufführung des Prozessbevollmächtigten im Rubrum und in den Gründen einer Entscheidung – auch wenn keine schriftliche Vollmacht eingereicht worden ist – ersichtlich von einer Bevollmächtigung ausgeht und die Entscheidung trotzdem nicht den Prozessbevollmächtigten bekannt gibt (BFH, Urteil vom 25.10.1963 – III 7/60 U -, BFHE 77, 764; BFH, Urteil vom 05.10.2000 – VII R 96/99 -, zitiert nach Juris, Rn. 13).

Im vorliegenden Fall sind Ermessensfehler nicht festzustellen, insbesondere besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Behörde bei der Auswahl der Klägerin als Bekanntgabeadressatin von unsachlichen, mit dem Zweck der Ermessensentscheidung nicht vereinbaren Erwägungen ausgegangen wäre. Dies gilt umso mehr als die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 23.08.2005 ihre Bevollmächtigung angezeigt und angekündigt hatten, die Vollmacht kurzfristig durch Übersendung einer schriftlichen Vollmachtsurkunde nachzuweisen. Dies war jedoch – entgegen der Ankündigung – bis zum Erlass des Aufhebungsbescheides nicht der Fall.

Eine Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes an den Prozessbevollmächtigten aufgrund einer das Ermessen der Behörde verengenden besonderen Sachlage (Ermessensreduzierung auf Null) besteht nur dann, wenn für den Betroffenen als denjenigen, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist, ein Bevollmächtigter eindeutig und unmissverständlich gerade (auch) als Bekanntgabeadressat bestellt worden ist und sich dies unmittelbar aus der diesbezüglichen Erklärung des Beteiligten bzw. seines Prozessbevollmächtigten ergibt. Andererseits ist die Behörde grundsätzlich in der Auswahl des Bekanntgabeadressaten frei. Dementsprechend hat die Rechtsprechung bei der Ermessensentscheidung in der Regel nur dann kein Wahlrecht eingeräumt, wenn der Betroffene ihr ausdrücklich mitgeteilt hat, dass er einen bestimmten Vertreter (gerade auch) zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtigt (BFH, Urteil vom 23.11.1999 – VII R 38/99 -, BFH/NV 2000, 549; BFH, Urteil vom 05.10.2000, a.a.O.).

Das war vorliegend nicht der Fall. Aus dem Schreiben vom 23.08.2008 ergibt sich ihre Bestellung zum Bekanntgabeadressaten nicht eindeutig und unmissverständlich. Die angekündigte Vollmacht – aus der sich eine solche hätte ergeben können – wurde von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht – wie von diesen angekündigt – kurzfristig überlassen.

2. Der Klägerin ist keine Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist zu gewähren. Nach § 67 Abs. 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist – hier: die Widerspruchsfrist – einzuhalten. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb der Antragsfrist nach § 67 Abs. 2 Satz 3 SGG ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht werden.

Zwar hat die Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Sie hat jedoch nicht ohne Verschulden die Widerspruchsfrist versäumt. Ein Beteiligter hat die Frist ohne Verschulden versäumt, wenn er diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen vernünftigerweise zugemutet werden kann. Wiedereinsetzung ist zu gewähren, wenn das Versäumnis der Frist auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch einen gewissenhaft und sachgemäß Prozessführenden nicht vermeidbar gewesen ist (BSG, Großer Senat, Beschluss vom 10.12.1974 – GS 2/73; SozR 1500 § 67 Nr. 1).

Die Klägerin hat vorliegend nicht diejenige Sorgfalt angewendet, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen vernünftigerweise zugemutet werden kann. Diese wäre nach Erhalt des Bescheides mit ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung nur dann gewahrt gewesen, wenn sie sich zumindest bei ihrem Prozessbevollmächtigten oder der Beklagten erkundigt hätte, ob nach der Widerspruchseinlegung im Anhörungsverfahren eine erneute Widerspruchseinlegung, die aufgrund der Rechtsbehelfsbelehrung nahe gelegen hat, nach Erhalt des Bescheides erforderlich ist. Das hat sie jedoch nicht getan. Der Rechtsirrtum, dem die Klägerin unterlag, als sie davon ausging, eine Widerspruchseinlegung im Anhörungsverfahren erübrige eine solche nach Erhalt des Bescheides, rechtfertigt keine Wiedereinsetzung, weil dieser Irrtum bei sorgfältigem Verhalten vermeidbar gewesen wäre (BVerwG, Beschluss vom 14.09.1998 – 8 B 154/98 -, zitiert nach Juris, Rn. 5 m.w.N.).

3. Es kann dahinstehen, ob das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs dann ausgeschlossen ist, wenn der Gesetzgeber die Folgen einer Verletzung einer dem Sozialleistungsträger obliegenden Pflicht gesondert gesetzlich, z.B. mit der Regelung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in § 67 SGG, geregelt hat (für einen Ausschluss: BSG, Urteil vom 10.07.2003 – B 11 AL 11/03 R -, zitiert nach Juris, Rn. 14; BSG, Urteil vom 15.12.1994, SozR 3-2600 § 58 Nr. 2; BSG, Urteil vom 31.08.2000 – B 4 RA 28/00 R -; BSG, Urteil vom 03.04.2001, SozR 3-2600 § 56 Nr. 15; BVerwG, Urteil vom 18.04.1997 – 8 C 38/95 -, NJW 1997, S. 2966; a.A: BSG, Urteil vom 02.02.2006 – B 10 EG 9/05 R -, zitiert nach Juris, Rn. 20 m.w.N.).

Jedenfalls ist vorliegend keine Verletzung der sich aus § 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) ergebenden Beratungspflicht der Beklagten gegeben, weil – selbst wenn eine Pflicht zur Spontanberatung (vgl. hierzu Benz, Die BG 1998, S. 170 ff.) bestanden hätte – weil ein laufendes Verwaltungsverfahren vorlag –, die Beklagte dieser Pflicht durch eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 02.11.2005 nachgekommen ist. Eine darüber hinausgehende Verpflichtung, darauf hinzuweisen, dass ein vor Erlass des Bescheides gegen ein Anhörungsschreiben gerichtetes Schreiben nicht genügt, ist nicht erforderlich. Dies gilt umso mehr als im Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 23.08.2005 gar kein „Widerspruch“ erhoben worden ist, sondern lediglich gegen die „angekündigte Rückforderung gem. dem Anhörungsschreiben vom 03.08.2005“ vorgegangen wird. Es handelt sich folglich bei diesem Schreiben auch seinem Wortlaut nach nicht um ein Widerspruchsschreiben, sondern eine Stellungnahme im Rahmen der Anhörung. Das Schreiben der Klägerin vom 10.08.2005, das seitens der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 27.11.2007 in das Verfahren eingeführt wurde, ist ausweislich der Akten der Beklagten nicht vor Erlass des Bescheides vom 02.11.2005 sowie des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2007 bei dieser eingegangen. Einen Nachweis des Zugangs bei der Beklagten vermochte die Klägerin nicht zu erbringen.

Nach alledem war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.