Formeller Verwaltungsakt LSG Mainz Urt. vom 20. Januar 2006 , Az: L 1 KR 71/05


SGG § 54 Abs 1 S 2 , SGG § 54 Abs 2 S 1 , SGB 10 § 31 S 1 , GG Art 14 Abs 1 , GG Art 2 Abs 1 , GG Art 20 Abs 3 , GG Art 3 Abs 1 , SGB 5 § 248 S 1 14.11.2003 , GMG ,
(Sozialgerichtliches Verfahren - Klagebefugnis - formeller Verwaltungsakt - Krankenversicherung - Bemessung von Beiträgen aus Versorgungsbezügen nach dem vollen allgemeinen Beitragssatz - Verfassungsmäßigkeit)

Orientierungssatz
1. Vermittelt eine Krankenkasse den Anschein, als sei ihre Erklärung auf eine feststellende Regelung gerichtet und weist sie auf die Möglichkeit eines Widerspruchs unter Beifügung eines vorbereiteten Widerspruchsschreibens hin, so ruft sie beim Adressaten die Vorstellung hervor, es handele sich um einen Verwaltungsakt. Allein schon durch die Existenz eines solchen bloß formellen Verwaltungsakts ist der Versicherte beschwert, so dass die Klagebefugnis gegeben ist. Ein solcher Verwaltungsakt ist stets rechtswidrig, weil der Adressat einer solchen Erklärung unerlaubt mit dem Risiko belastet wird, dass sie später in anderen Zusammenhängen unzutreffend als bestandskräftiger Verwaltungsakt qualifiziert wird (BSG vom 20.12.2001 - B 4 RA 50/01).
2. Die ab dem 1.1.2004 geltende Bestimmung in § 248 S 1 SGB 5 (in der Fassung durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 - BGBl I, 2190), wonach bei Versicherungspflichtigen für die Bemessung der Beiträge aus Versorgungsbezügen und Arbeitseinkommen der jeweils am 1. Juli geltende allgemeine Beitragssatz ihrer Krankenkasse für das folgende Kalenderjahr gilt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl BSG vom 24.08.2005 - B 12 KR 29/04 R).

Verfahrensgang
vorgehend SG Koblenz 21.04.2005 S 11 KR 545/04
nachgehend BSG 3.03.2006 B 12 KR 14/06 B
Langtext

Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Beitragserhebung aus Versorgungsbezügen nach dem vollen Beitragssatz ab 01.01.2004.
Der 1932 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit 01.04.2002 in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) versicherungspflichtig. Er bezieht eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie monatliche Versorgungsbezüge von der Thyssen Krupp Dienstleistungen GmbH.
Mit Schreiben vom 29.06.2004 teilte die Beklagte dem Kläger Folgendes mit:
"Durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich für Sie Änderungen bei Ihren Beiträgen aus Versorgungsbezügen (z. B. Betriebsrenten und Pensionen) und/oder für Einkünfte aus einer selbstständigen Tätigkeit ergeben. Seit 01.01.2004 werden die Beiträge mit dem allgemeinen Beitragssatz der TK von zur Zeit 13,7 % berechnet. Davor galt die Hälfte dieses Beitragssatzes.
Durch Musterstreitverfahren soll geklärt werden, ob diese Mehrbelastung rechtmäßig ist. Eine endgültige Entscheidung durch die Gerichte wird voraussichtlich erst in einigen Jahren vorliegen. Fällt das Urteil positiv für Sie aus, werden die überzahlten Beiträge erstattet. Dies ist jedoch nur dann sichergestellt, wenn Sie gegen die höheren Beiträge bei der TK Widerspruch einlegen.
Eine vorbereitete Antwort haben wir beigefügt. Bitte senden Sie diese innerhalb eines Monats nachdem Sie dieses Schreiben erhalten haben an uns zurück, wenn Sie Widerspruch erheben möchten."
Der Widerspruch des Klägers "gegen die gesetzlichen Änderungen ab 01.01.2004 zur Höhe des Beitragssatzes von Versorgungsbezügen und/oder Einnahmen aus einer selbstständigen Tätigkeit" wurde am 17.08.2004 zurückgewiesen. Die Beklagte führte aus, dass für die Beitragsberechnung aus dem Versorgungsbezug ab 01.01.2004 der volle allgemeine Beitragssatz anzuwenden sei.
Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 29.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2004 und auf Verurteilung der Beklagten, von seinen Versorgungsbezügen ab dem 01.01.2004 den halben Beitragssatz bei der Bemessung des Beitrages zur Krankenversicherung in Abzug zu bringen, durch Urteil vom 21.04.2005 abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht die aus den Versorgungsbezügen zu zahlenden Beiträge nach dem allgemeinen Beitragssatz berechnet. Die Neuregelung sei nicht verfassungswidrig.
Gegen das ihm am 09.05.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11.05.2005 Berufung eingelegt.
Er trägt vor, dass es nicht mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen sei, wenn aus fiskalischen Gründen eine Gruppe von Rentnern herausgegriffen und von diesen ein Sonderopfer abverlangt werde.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 21.04.2005 – S 11 KR 545/04 –, den Bescheid der Beklagten vom 29.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2004 sowie den Bescheid vom 09.11.2005 aufzuheben und festzustellen, dass die von ihm zu tragenden Beiträge zur Krankenversicherung aus seinem Versorgungsbezug seit 01.01.2004 71,83 € und seit 01.01.2005 72,36 € monatlich betragen,
hilfsweise das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie erachtet die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Mit Bescheid vom 09.11.2005 hat sie den vom Kläger ab 01.01.2004 zu tragenden Beitrag aus seinem Versorgungsbezug auf monatlich 143,66 € und ab 01.01.2005 auf monatlich 144,73 € festgesetzt. Die Beiträge würden von der Zahlstelle des Versorgungsbezugs einbehalten und an sie überwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Er war Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Das Urteil des SG ist abzuändern. Der Bescheid der Beklagten vom 29.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2004 ist aufzuheben. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.
Die im Berufungsverfahren anhängig gewordene Klage gegen den Bescheid vom 09.11.2005 ist abzuweisen. Die von der Beklagten ab 01.01.2004 vorgenommene Festsetzung der Beiträge des Klägers aus dem Versorgungsbezug nach dem (vollen) allgemeinen Beitragssatz ist nicht zu beanstanden.
Das Begehren des Klägers (Schreiben vom 08.06.2005 und 17.11.2005), Beiträge nur nach dem halben Beitragssatz in Abzug zu bringen, ist als Anfechtungs- und Feststellungsklage auszulegen (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Beklagte kann die Beiträge nur von der Thyssen Krupp Dienstleistungen GmbH als Zahlstelle des Versorgungsbezugs fordern (§ 256 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch <SGB V>). Eine verbindliche Entscheidung über die von dem Kläger zu tragenden Beiträge ist hingegen von der Beklagten zu treffen.
1.
Die Anfechtungsklage gegen das Schreiben der Beklagten vom 29.06.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2004 ist begründet. Gegenstand einer solchen Klage ist ein Anspruch auf Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsakts. Beschwert ist der Kläger nur, wenn er behaupten kann, durch einen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Im Schreiben vom 29.06.2004 hat die Beklagte nicht die Höhe der vom Kläger ab 01.01.2004 aus seinem Versorgungsbezug zu tragenden Beiträge festgestellt, sondern ihm lediglich die Höhe des ab diesem Zeitpunkt geltenden allgemeinen Beitragssatzes mitgeteilt. Eine Entscheidung über die nunmehrige Summe der vom Kläger zu tragenden Beiträge wurde nicht getroffen und es fehlt damit an einer Regelung eines Einzelfalls als Voraussetzung für einen Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch <SGB X>). Die Beklagte hat aus der Zugrundelegung des allgemeinen Beitragssatzes keine Folgerung mit unmittelbarer Wirkung für die Beitragszahlungen des Klägers gezogen.
Auch die Widerspruchsstelle der Beklagten hat dem Schreiben vom 29.06.2004 nicht die Gestalt eines anfechtbaren Verwaltungsakts gegeben. Dies würde voraussetzen, dass mit dem Widerspruchsbescheid vom 17.08.2004 die Willenserklärung einer Behörde als Verwaltungsakt bestätigt wird, wobei dann eine nach ihrem Inhalt hinreichend bestimmte Regelung getroffen werden muss (BSG, Urteil vom 30.03.2000 – B 12 KR 13/99 R –, SozR 3-2500 § 308 Nr. 1). Dies war hier nicht der Fall, da der Widerspruchsbescheid keine über die Darstellung des Sachverhalts hinausgehende konkrete Regelung enthielt.
Jedoch hat die Beklagte im Schreiben vom 29.06.2004 den Anschein vermittelt, als sei ihre Erklärung auf eine feststellende Regelung gerichtet. Sie hat auf die Möglichkeit eines Widerspruchs hingewiesen und ein vorbereitetes Widerspruchsschreiben beigefügt. Damit wurde beim Kläger die Vorstellung hervorgerufen, es handele sich um einen Verwaltungsakt.
Allein schon durch die Existenz eines solchen bloß formellen Verwaltungsakts ist der Kläger beschwert, so dass die Klagebefugnis (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG) gegeben ist. Ein solcher Verwaltungsakt ist stets rechtswidrig (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), weil der Adressat einer solchen Erklärung unerlaubt mit dem Risiko belastet wird, dass sie später in anderen Zusammenhängen unzutreffend als bestandskräftiger Verwaltungsakt qualifiziert wird (BSG, Urteil vom 20.12.2001 – B 4 RA 50/01 R –, veröffentlicht in Juris). Das Schreiben vom 29.06.2004 ist damit aufzuheben. Ebenso aufzuheben ist der Widerspruchsbescheid vom 17.08.2004, in welchem die Beklagte irrtümlich davon ausgegangen ist, sie habe im Schreiben vom 29.06.2004 einen Verwaltungsakt erlassen.
2.
Mit Bescheid vom 09.11.2005 hat die Beklagte die konkrete Höhe der ab 01.01.2004 und ab 01.01.2005 zu zahlenden Beiträge aus dem Versorgungsbezug festgesetzt und damit einen Verwaltungsakt als Regelung eines Einzelfalls gegenüber dem Kläger erlassen. Dieser Bescheid ist in entsprechender Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Eine unmittelbare Einbeziehung des Bescheids nach dieser Vorschrift ist nicht möglich, da kein Verwaltungsakt vorlag – wie dargelegt –, der abgeändert oder ersetzt werden konnte. Jedoch ist die Bestimmung des § 96 Abs. 1 SGG aus prozesswirtschaftlichen Gründen entsprechend anzuwenden, wenn der spätere Bescheid den Streitstoff nicht erweitert. Eine solche Wirkung tritt hier nicht ein, da der Bescheid vom 09.11.2005 vom Kläger mit der selben Begründung angegriffen wird, wie das Schreiben vom 29.06.2004. Der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bedarf es nicht.
Dieser Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat die Beiträge in zutreffender Höhe geltend gemacht. Das Feststellungsbegehren des Klägers, ab 01.01.2004 die Beiträge zur Krankenversicherung aus seinem Versorgungsbezug lediglich in Höhe des (bisherigen) halben Beitragssatzes, d. h. ab 01.01.2004 in Höhe von 71,83 € und ab 01.01.2005 in Höhe von 72,36 € festzusetzen, ist unbegründet.
Die ab dem 01.01.2004 geltende Bestimmung in § 248 Satz 1 SGB V (in der Fassung durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 – BGBl I, 2190), wonach bei Versicherungspflichtigen für die Bemessung der Beiträge aus Versorgungsbezügen und Arbeitseinkommen der jeweils am 01. Juli geltende allgemeine Beitragssatz ihrer Krankenkasse für das folgende Kalenderjahr gilt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das BSG hat dargelegt (Urteil vom 24.08.2005 – B 12 KR 29/04 R –, zur Veröffentlichung in SozR 4 bestimmt), dass ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht vorliegt. Es hat insbesondere darauf hingewiesen, dass es geboten ist, aus Einkunftsarten, die – wie hier – zulässigerweise der Beitragspflicht unterworfen werden, Beiträge von den Mitgliedern stets nach dem vollen Beitragssatz zu erheben und dass eine Entlastung der Mitglieder von der Tragung der Beiträge nur bei tatsächlicher Verschiebung der Beitragslast auf Dritte zuzulassen ist. Für die gesetzliche Änderung gibt es auch sachliche Gründe. Sie verfolgt das verfassungsrechtliche legitime Ziel, Rentner mit Versorgungsbezügen in angemessenem Umfang an der Finanzierung der Leistungsaufwendungen zu beteiligen, um so das solidarisch finanzierte Krankenversicherungssystem zu erhalten, ohne einerseits die Lohnnebenkosten durch weitere Beitragssatzanhebung zu steigern und ohne andererseits Leistungen rationieren zu müssen. Auch die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG und der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Der Senat schließt sich den Ausführungen des BSG nach eigener Überprüfung in vollem Umfang an. Eine Aussetzung des Rechtsstreits und eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 GG) kommt damit nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.